Im Gespräch mit Fremden

Hast du dich auch schon mal über die zunehmende Anonymität unserer Gesellschaft beklagt? Dich genervt, dass alle nur noch vollkommen absorbiert und isoliert mit ihrem Smartphone beschäftigt sind, aber nicht mit ihrem Gegenüber? Wir haben in einem Selbstversuch ausprobiert, wie es ist, genau diese Norm zu durchbrechen und vollkommen Fremde anzusprechen.

Von Olivia Grubenmann

Du kennst das: Mit deinen Freunden und mit der Familie hast du tiefe und gute Gespräche. Du weisst wie sie ticken (meistens) und kannst ein Gespräch ungeniert anfangen, intensivieren, oder beenden. Wenn du jedoch in ein Gespräch mit jemand Fremden verwickelt wirst, bist du oft erst distanziert, abweisend oder zumindest zurückhaltend.

Meistens ist es nur schon schwierig ein Gespräch anzufangen. Wie sollen wir die Person ansprechen? Sind wir zu aufdringlich? Was sollen wir tun, wenn das Gespräch versandet? Die meisten von uns wollen solche „awkward moments“ vermeiden, indem sie sich gar nicht erst auf ein Gespräch einlassen.

Klar, ab und zu ergibt sich ein Smalltalk, und wenn wir einkaufen, bestellen oder nach dem Weg fragen, sind wir meistens auch nicht schüchtern. Aber so richtig gute Gespräche mit Fremden? Gibt’s viel zu selten.

Selbstversuch, der zum Schwitzen bringt

Vor ein paar Tagen betrat ich voller Motivation das Unigelände, mit der Absicht, ein paar Leute für ein Projekt zu interviewen. Die ersten Minuten war ich noch absolut motiviert. Nach einer halben Stunde des Leute-Beobachtens, mich ihnen Nähern – und mich wieder Zurückziehens, schrumpfte mein Optimismus wie ein drei Tage alter Luftballon. Schon bald verwandelte sich meine anfängliche Motivation in leichte Verzweiflung. Warum fiel es mir so schwer eine Person anzusprechen? Ich hatte mich immer für eine offene Person gehalten, die unbeschwert auf andere Menschen zugeht. Nun bildeten sich vor Nervosität Schweissperlen auf meinem Gesicht. Nach zwei Stunden, ja zwei Stunden!, ohne jemanden angesprochen zu haben, wollte ich aufgeben und gehen.

40-Minuten Spontan-Gespräch

„Noch ein Versuch“, dachte ich. Und siehe da: Ich sprach jemanden an, und die Person liess sich sogleich auf ein Gespräch mit mir ein. Mit der zweiten Person redete ich sage und schreibe 40 Minuten. Zuerst über das Projekt, und schliesslich über Gott und die Welt, über unsere Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Lebenseinstellungen. Wir hätten wohl beide noch lange weiter reden können, hätte es die Zeit zugelassen. Als ich nach dem Gespräch durch die Stadt lief, strahlte ich, sprang beschwingt die Treppen hinunter und merkte, wie meine Gedanken ganz leicht und unbeschwert dahinflossen und sich zu neuen, spannenden Gebilden formten. Knoten in meinem Gedankenwirrwarr fingen an sich aufzulösen und ich hatte einen regelrechten Energieschub.

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Der Homogenitätsblase entkommen

Inmitten dieser Leichtigkeit wusste ich endlich wieder, warum ich einer Arbeit nachgehen möchte, die mit anderen Menschen zu tun hat. Mit ihren Geschichten, ihren Plänen und Ansichten. Diese Gespräche im Alltag können manchmal anstrengend sein. Wenn wir ehrlich sind, stehen wir wohl alle nicht sonderlich darauf, wenn uns jemand im Zug frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit zuquatscht, und wenn wir in Eile sind, kann es ganz schön nervig sein, mit Fragen durchlöchert zu werden. Aber es gibt Situationen, da ist es absolut inspirierend und spannend sich mit Mitmenschen zu unterhalten. Denn viel zu oft im Alltag bewegen wir uns, ohne es zu merken, in einer Blase der Homogenität. Unser Facebook Newsfeed wird an unsere Interessen angepasst und sogar in unserem Freundes und Bekanntenkreis gleichen sich unsere Einstellungen immer mehr an, wenn sie nicht schon zu Beginn ähnlich waren.

Hemmungen loslassen

Ich habe sie auch, diese anfänglichen Hemmungen, mich aus meinen eigenen Gedanken reissen zu lassen und in eine andere, aufreibendere Gedankenwelt einzutauchen. Und natürlich sind nicht alle Gespräche positiv und bereichernd. Aber manchmal geht man aus einem Gespräch heraus und fühlt sich absolut inspiriert. Manchmal gehen neue Türen auf, Freundschaften entstehen, Vorurteile werden überwunden.  Und allein schon für solche Momente lohnt es sich, ab und zu aus der Komfortzone zu treten.

In diesem Sinne: ein Hoch auf Gespräche, mit Freunden und Fremden!

2 Kommentare

  1. Dieses Gefühl kenne ich nur zu gut… Wenn sich niemand traut, den Anfang zu machen.
    Ich glaube allerdings, viele Menschen würden sich wünschen, wieder freier mit fremden Menschen reden zu können. Ich bin selbst mehrfach innerhalb Deutschlands umgezogen und es war regelrecht eine Qual, einen neuen Bekanntenkreis aufzubauen, obwohl ich ein sehr offener Mensch bin.

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