Viele Studiengänge an der Universität bestehen aus so wenigen Kursen, dass die Studierenden doppelt so viel Freizeit wie Arbeit haben. Was klingt wie ein Traum, ist für viele ein Fluch.
Von Angelika Imhof
Studierende heutzutage stehen unter einem enormen Leistungsdruck. In ihrer Not greifen sie schon mal zu Ritalin um das Semester und vor allem die Prüfungen durchzuhalten. Manch eine/r hat schon bis zum Burn Out gebüffelt. So heisst es.
Meine Erfahrung ist eine andere: Die meisten Studierenden die ich kenne, haben nicht zu viel zu tun, sondern zu wenig. Denn das sogenannte „Vollzeitstudium“ beansprucht oft nicht mehr als 2.5 Wochentage und weil sie oft sponsored by daddy sind oder Stipendien erhalten, sehen sich viele nicht dazu gezwungen, mehr als einen Tag zu arbeiten. Bleiben also immer noch 3.5 Wochentage fürs süsse Nichtstun – das dann oft so bitter schmeckt.
Ein schlechtes Gewissen als treuster Buddy
Die immense freie Zeit fordert – sie fordert zum ständigen Selbstdiktat, sie auch ja sinnvoll und produktiv zu nutzen. Man könnte zum Beispiel autodidaktisch Finnisch lernen, sich im Fechten üben, schnell mal ein Start up gründen oder sich endlich ehrenamtlich engagieren.
Aber meistens wird sie dann doch nur ins Serien-Schauen, Social-Media-Update und Whatsapp-Schreiben investiert. Vielleicht noch bisschen Putzen, Kochen, Waschen und Blätter ausdrucken fürs nächste Seminar zwei Tage später. Wenn das alles mit Genuss und Erfüllung geschehen würde, wär ja alles schön und gut. Zumindest für die eigene Psyche. Aber kaum ist wieder ein Tag vergangen, währenddem irgendwie so gar nichts zu Stande gebracht wurde – nicht mal die selbstaufgezwungenen Ziele auf der To-Do-Liste – macht sich ein verlässliches, mieses Gefühl bemerkbar, das nach persönlichem Versagen, Selbstvorwürfen und Sinnkrise schmeckt.
Das Aufwachen gestaltet sich ähnlich: Jeder freie Morgen der bis um 9 Uhr im Bett verbracht wird, startet mit einem unfreiwilligen High-Five mit dem schlechten Gewissen, weil man es schon wieder nicht geschafft hat, um 7.30 Uhr hypermotiviert aus den Federn zu hüpfen und gleich zum Morgenlauf loszurasen. Und da kaum ein Uni-Kurs vor 10 Uhr beginnt, sind das über die Jahre ganz schön viele verschlafene Morgen und High Fives.
Ein Problem, das keines sein darf
Fakt ist, die grosse Freiheit im Unialltag (und ja – ich rede hier vor allem und evt. ausschliesslich von den Geisteswissenschaften) kann genauso überfordern, wie das Ersaufen in Arbeit. Mit zwei Unterschieden.
Erstens, der/die Geisteswissenschaftler/in kann sich nicht über seine/ihre Überforderung beklagen, ohne von jedem tüchtigen Arbeitsmenschen eine imaginäre Ohrfeige zu kassieren. Aber darauf könnte man ja noch scheissen. Schlimmer ist die eigene Einsicht, dass mehr First-World-Problem eigentlich gar nicht geht. Nur: Auch das Bewusstsein dessen schafft das Problem nicht ab.
Der zweite Unterschied ist noch entscheidender: Wer in Arbeit und Prüfungen versinkt, hat einen greifbaren Gegner: Eben diese Arbeit und diese Prüfungen. Wer aber mit zu viel Freiheit nicht klarkommt, der kann das nur sich selbst vorwerfen. Der zu bekämpfende Feind sitzt dann im eigenen Ich. Da hilft dann auch kein Ritalin.